Prof. Dr. Elmar Schenkel während seines Vortrages:

Kreis, Sprache, Literatur
 
 

::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::






Sprache ist linear, sie folgt dem Pfeil der Zeit. Doch schon beim Sprechen müssen wir uns ständig erinnern, um vorwärtszugehen. Male einen Punkt auf ein Rad und verfolge, wie er nach oben und vorne geht, um dann nach unten und rückwärts abzufallen. Aus dieser Spannung von Zeiten entsteht Literatur. Im Vortrag soll gezeigt werden, wie die Linearität von Sprache durch die Poesie unterlaufen wird. Besser: die Dichtung erinnert die Sprache immer daran, was sie ist und sein könnte. Ähnliches geschieht beim Erzählen, das immer auch  zyklische Züge aufweist. Das Erzählen in der Moderne ist zudem spiralartig auf sich selbst gerichtet – als Metafiktion und Selbstreflexion. Kreisförmige Strukturen – Spiralen, Wendeltreppen, Spiegelungen, Wiederholungen – haben die Literatur von den Mythen bis zur Moderne in Bann gezogen. Vielleicht sind sie Erbschaft von Religion in säkularen Zeiten, die bis in die Bilder der DNS reicht. Als Beispiele für Kreis und Reflexion sollen Fahrräder dienen, die ab 1890 die Literatur durchgeistern – von Mark Twain bis Beckett, sowie der Möbius-Streifen als eine besondere, die Dimensionen überschreitende Kreisform.
 
 

::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::




Faszination des Kreises für Literatur: das Bindende, Verbindende, Bannende. Warum ist der Titel
"Herr der Ringe" besser als "Der Herr der Quadrate?"

1. Sprache und Kreis
1.1. Etymologie:
Wenn man dem Verhältnis von Sprache zu Dingen nachgeht, lohnt es sich zunächst einmal in die Etymologie hineinzuschauen. Nicht daß hier die Wahrheit läge, aber doch ein Potential der späteren Bedeutungsmöglichkeiten, Subtexte oder poetische Keime

Kreis =  ahd kreiz - Bezirk, auch Kampfplatz,
krizen = Kreislinie ziehen, krizzon = einritzen
(vgl kritzeln, kratzen).  Verwandt vermutlich mit Grenze, U-Kraine, Kraina usw.
also: das Abtrennen einer Welt innerhalb der Welt, aber auch Gebiet von Gerichtsbarkeit.
gr./lat/ engl. cycle/ kuklos: aus indoeurop: *qwel/ sich herumbewegen (Quelle/ Qualm) - daraus *qweqwelo = wheel (chakra, sanskrit)
Enzyklopädie= Einkreisung (im Sinne von allgemeiner Abrundung der Erziehung, des Wissens)
Rad,  lat. rota = Rad, verwandt: Rolle, rund, rasch, gerade
ide. * reth- laufen, rennen, rollen -  ist es mit Rede verwandt? (= Zahl)
so wie zählen/ erzählen verwandt sind und ursprünglich "kerben" bedeuten (Zählen von Vieh auf Holzstäben zB.)

1.2
Sprache vs Bild - vgl Lessings Unterscheidung im Aufsatz über den "Laokoon", räuml- vs zeitliche Künste.
Dichtung in der Zeit, also linear, wie Musik.
Sprache als Fähigkeit das Nebeneinander/ Paradigma syntaktisch als zeitliche Folge zu organisieren.
Sprachstörungen, wenn die Linearität durch Gleichzeitigkeit unterbrochen wird
Lyrik ist oft ein Spiel mit Sprachstörung, insbesondere im Nonsense (Carroll, Morgenstern)
Jakobson (Aphasieforschung) entdeckt den Parallelismus=
das Gedicht - wie Musik -  organisiert sich über Wiederholung (Reim, Metrum, Bilder) und unterläuft die Linearität. Das ist in der Schrift leichter, denn die Schrift hat Bildelemente, d.h. von Raumkunst. E.E. Cummings entdeckte die Schreibmaschine als poetisches Organ und nutzte das Schriftbild zur Aufbrechung der linearen Sprache.
Cummings:  Leaf falling

Lyrik ist dem Kreis zugetan, weil sie aus dem Tanz entspringt, enthalten in Formen wie
Rondell/ Triolett/ Schnaderhüpferl/ Refrain / Ringelrein

Palindrom (= Wiederholung rückwärts, wie Otto)

Verflossen ist das Gold der Tage,
Des Abends braun und blaue Farben:
Des Hirten sanfte Flöten starben,
Des Abends blau und braune Farben;
Verflossen ist das Gold der Tage.
(Georg Trakl)

Gold -Abend- Hirte- Abend - Gold
Welche Wirkung hat diese Rückwärtswiederholung? Einschließung? Stillstand? oder im Gegenteil: kreishaftes Weitergehen, spiralig?

Vgl. auch den Chiasmus: ABBA , wie in Goethe, "... die Kunst ist lang, Und kurz ist unser Leben"

Die Dichtung bringt die  Sprache also zum Tanzen. Ein anderes Beispiel ist Ernst Jandl. Er bricht die Sprache syntaktisch und akustisch auf, reduziert, wiederholt und macht dadurch absurde Gründe sichtbar. Oder er nimmt den Vokal, der den Kreis verkörpert: das O, und macht daraus ein Gedicht: Ottos Mops kotzt.

Auch die Synästhesie bringt den Zeitlauf durcheinander und schafft Gleichzeitigkeit oder Bögen von Beziehungen. Hier werden zwei Sinne ineins gesetzt.

Clemens Brentano:

Abendständchen

Hör, es klagt die Flöte wieder,
Und die kühlen Brunnen rauschen,
Golden wehn die Töne nieder -
Stille, stille, laß uns lauschen!

Holdes Bitten, mild Verlangen,
Wie es süß zum Herzen spricht!
Durch die Nacht, die mich umfangen,
Blickt zu mir der Töne Licht!
 

Der Linguist Roman Jakobson stellte fest, daß Lyrik regiert wird von der metaphorischen Beziehung, d.h. der Ähnlichkeiten.
Owen Barfield: Metapher steht für Partizipation, die Gemeinsamkeit, das Kreisende zwischen Mensch und Natur (Prosa ist modern, setzt sich ab - repräsentiert, abstrahiert, reduziert)
metaphorein: hinübertragen, Fähre, gegenseitige Bedeutungszuschreibungen. Wenn wir sagen: der Fingernagel Mond, so sieht der Mond durch die Metapher plötzlich anders aus, aber auch der Fingernagel. Die Metapher zeigt ihre geheime Verwandtschaft. Mythisches Weltbildd der Korrespondenzen, der zyklischen Wiederkehr.
Daran erinnert Poesie in der modernen Welt. Sie versucht den Kreis in einer quadratrischen Welt zu zeigen: die Verkreisung, Zirkulatur des Quadrats.
Das muß auf immer unvollkommen bleiben, enthält aber auch die Utopie und taucht in Nonsense auf, als Absurdität oder Negativität = Erinnerung durch Verneinung

2. Kreis und Utopie
Platons Mythos von den frühen Wesen, die zweigeschlechtliche Kugeln waren. Die Kugeln brachen auseinander und es entstanden die eingeschlechtlichen Menschen, die nun immer auf der Suche nach der anderen Hälfte sind. (Timaios)
Für den Vorsokratiker  Parmenides war das Sein eine Kugel.
Augustinus und andere: Gott ist ein Kreis, dessen Mittelpunkt überall ist.
Der Kreis als ideale, göttliche Form, die alles enthält und der Ursprung ist.
Die Kugel als das Vollkommene : Mann / Frau
Nachleben dieser Idee durch Jahrhunderte
Dante/ Sphärenwelten
Vgl. dazu Georges Poulet, Metamorphosen des Kreises.
Bei Dante ist "Gott ... ein Punkt, der ins Unendliche anschwillt, ein Brennpunkt von Energie, der sich exzentrisch über alles ausdehnt:

Er dehnt sich aus in mächtigem Kreise rund
so sehr, daß sein gesamter Umfang gar
der Sonne ein zu weiter Gürtel wäre.
 

Die Insel als Kreis= abgegrenzter utopischer Raum (Morus, Atlantis von Platon bis Bacon, Wells, Moreau, Golding, Verne)

Kreis als ideale Form
Keplers Enttäuschung: er hoffte, die Bewegung der Planeten im Sinne der platonischen Urkörper als Kreise darstellen zu können, doch mußte feststellen: die Welt ist eierförmig
Fortunas Rad
Folie Fortuna/ Sapientia
Fortleben Renaissance/ Barock
die Säkularisierung des Kreises zur Monade (vgl. Poulet), Kristallkugel und Seifenblase ersetzen das alte Weltbild und machen die Sphären zum Spielzeug oder Mikrokosmos.

In der Romantik kehrt die Kreis/ Kugelfigur zurück. Gustav Theodor Fechner:. "Vergleichende Anatomie der Engel": der Engel, zu dem wir uns hinentwickeln, ist eine Kugeln. In uns ist sie enthalten in Keimform, nämlich als Auge.

Der amerikanische Philosoph  (Transzendentalist) Ralph Waldo Emerson redet in seinem Essay: "Circles" von den Zirkularen Philosophen . Er säkularisiert die Kugel zum Auge. Fortschritt verläuft nicht linear, sondern wellen- und kreisförmig.
Zwei Kreise sind der Ausgangspunkt für seine Betrachtungen:
Auge = 1. Kreis, Horizont = 2. Kreis
Jedes Ende enthält einen neuen Anfang. Jede Welle kann Mittelpunkt eines neuen Kreises werden.
Aber in diesem Bild verbirgt sich auch Instabilität oder Subjektverlust:
"I become a transparent eyeball; I am nothing; I see all"  ("Nature")

Eine Ambivalenz, aus der Moderne entspringt:

1. Kugel als instabil: Absurdität, Verlusttrauma
Beispiel:
Emily Dickinson Nr. 378

I saw no Way - The Heavens were stitched -
I felt the Columns close
The Earth reversed her Hemispheres -
I touched the Universe -

And back it slid - and I alone -
A Speck upon a Ball -
Went out upon Circumference -
Beyond the Dip of Bell -

Kein Weg - Die Himmel warn vernäht -
Die Pfeiler fühlt ich schließen -
Erde tauschte die Hemisphärn -
Am Universum stieß ich -

Es glitt zurück - und ich allein -
Auf der Kugel nur ein Punkt -
Trat hinaus auf die Peripherie -
Wo keine Glocke Schwingt -
(Übers.: Werner von Koppenfel)

Das Auge, das ständig beobachtet: Paranoia (vgl.auch die Marsianer bei Wells, Krieg der Welten, 1898, oder Orwells Big Brother). Poe gestaltet immer wieder diesen Alptraum: "The Pit and the Pendulum" (Grube und Pendel)

Odilon Redons Augenbilder

 2.Auch von Emerson her läßt sich eine  Mythologie des Kindes ableiten als dem wahren Schöpfer und Erneuerer der Wahrnehmung. Die bewußte Einnahme kindlicher Perspektive zur Verfremdung und Erfrischung der Welt.
- das Motiv der Kugel als Spiel/ Seifenblase -
Folie Homo Bulla, 16. Jhdt (als Rokoko-Motiv, s. Poulet 50ff)
 Nietzsche: "im ächten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen" aufgegriffen in Morgensterns Galgenlieder
Morgenstern "Palmströms Verzauberung"

Das alte Weltbild geistert als Scherbe durch die Projekte der Moderne, ob sie nun Symbolismus, Dadaismus, Expressionismus oder Postmoderne heißen

3. Kreismotiv in der Moderne

Modernisten
1. Säkular, bis parodistisch:
zyklisches Modell:
James Joyce,  der sich auf Giambattista Vicos Zyklenmodell bezieht (17. Jahrhundert)-
Finnegans Wake: erster Satz ist der Anfang vom Ende u. umgekehrt

Virginia Woolf erprobt die zyklische Zeit, z.B. in The Waves. Vielleicht zu verstehen als Verbindung von weiblich/männlich und daher eine Bestätitgung ihres Ideals der Androgynität des  künstlerischen Schöpfers. Zur Bedeutun des zyklischen Weltbildes vgl. Mircea  Eliade, Der Mythos der ewigen Wiederkehr.

Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit: der Erzähler beginnt sich zu erinnern, nachdem er die Madeleine in den Tee getaucht hat. Am Ende, Tausende Seiten später, sehen wir den Erzähler die Feder ergreifen zur Niederschrift genau dieser Erinnerungen
 

Nietzsches Begriff der ewigen Wiederkehr = als Wiederkehr der antiken Zyklentheorien bei Platon und die Weltzyklen des Brahmanismus.

2. Versuch eines Wiederaufbaus
T.S. Eliot
jedes Ende ein neuer Anfang
 (vgl Four Quartets,
In my beginning is my end ....
What we call beginning is often the end
And to make an end is to make a beginning, 23, 58

W.B. Yeats
Sein Modell der "gyres" (zwei sich ineinander drehende Kegel, vgl. Gyros), das er aus den Visionen seiner Frau Georgie entwickelte. Sie war ein okkultes Medium und praktizierte automatisches Schreiben. Die Bewegung der Kegel zeigt bestimmte historisch-metaphysische Phasen an. Vgl. Yeats, A Vision.

"The Second Coming"
Turning and turning in the widening gyre
The falcon cannot hear the falconer;
Things fall apart; the centre cannot hold;
Mere anarchy is loosed upon the world,
The blood-dimmed tide is loosed, and everywhere

The ceremony of innocence is drowned (...)
 

3. Absurdität

Beispiel Rad: Das Fahrrad in Literatur und Kunst - eine Drehung von drei Kreisen, die die Absurdität menschlicher Bewegung verkörpert, aber auch so etwas wie eine Erinnerung an die Dreifaltigkeit darstellt.
Marcel Duchamp: Rad
Duchamp stellt hier ein einfaches Rad auf den Sockel, aber umgekehrt. Das ist eine frische Alltagswahrnehmung, enthält aber auch eine Anspielung auf die Alchemie. Das Opus der Alchemie wird oft durch die Schlange dargestellt, die sich in den Schwanz beißt, der Ouroboros.
Samuel Beckett läßt in seinen frühen Romane wie Murphy das Fahrrad als Absurdität auftauchen. Der Protagonist trägt sogar über weite Strecken das Rad auf dem Rücken. Vgl. Friedhelm Rathjen, Samuel Beckett & seine Fahrräder. Noch weiter treibt es Flann O'Brien in seinem schrägen Fahrradroman The Third Policeman. Bei beiden kommt es zu Mensch/ Rad-Symbiosen
Die Archetypen leben in absurdem Gewand fort. Noch in der Negation bestätigt sie die moderne Kunst

4. Postmoderne Selbstreferenz
Der Kreis in der Postmoderne reflektiert auf sich selbst, ist sozusagen eine Selbstspiegelung. Deshalb ist seine Gestalt die des Moebius-Streifen. Der Leipziger Astrophysiker Moebius suchte im 19. Jahrhundert nach einem Blatt Papier, das nicht zwei, sondern nur eine Seite hatte. Er fand es durch eine einfache Verdrehung. Wenn eine Figur auf diesem Streifen entlangläuft, berührt es beide Seiten, ohne die Seite zu wechseln. Das Moebiusband wurde Vorbild für postmodernes Erzählen wie z.B. bei John Barth. Ähnliche Selbstreferenzen durch die Aufgabelung von Erzählvorgängen finden sich bei dem Argentinier Jorge Luis Borges (Fiktionen). Vgl. auch die Graphiken von M.C. Escher.
 

Schluß: Altes und neues Weltbild stoßen bei Rilke aufeinander - als Orientierung, Schwindel, Flug. Wachsende Ringe: Nachhall Emersons. Das Gedicht aus dem Stundenbuch läßt den Kreis erleben als Subjektlosigkeit, Unwissen, Offenheit: ist er ein Tier, ein Naturphänomen oder Musik? Wie sind Gott und Mensch aufeinander bezogen?

Rilke
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
 

Literaturhinweise

Manfred Lurker, Der Kreis als Symbol. Tübingen: Wunderlich 1981.
Georges Poulet, Metamorphosen des Kreises in der Dichtung. Frankfurt/M.: Ullstein 1985.
Friedhelm Rathjen, Samuel Beckett & seine Fahrräder. Darmstadt: Häusser 1996.
 


::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::
 
 


...........................................................................................Prof. Dr. Elmar Schenkel